„Hier passt doch eine ganze Jugend rein“, sagt Renate Mergemeier: „50 Blatt, 100 Seiten. Pro Lebensjahr kann man jährlich fünf Seiten mit Fotos füllen und hat dann Kindheit und Jugend eines Menschen auf langlebige Art und Weise dokumentiert.“
Nein, es ist nicht einfach irgendein Fotoalbum: Dieses handwerklich gebundene Buch hat einen sogenannten „Sprungrücken“, der durch das Aufbringen mehrerer Pappschichten so formstabil wird, dass das Buch nach dem Öffnen völlig plan aufliegt. Damit nicht genug: Das Album, mit dem Namen eines neugeborenen Mädchens individualisiert, ist auf Wunsch des Kunden in hellgrünes Leder gebunden, das man einer marokkanischen Oasenziege, die nie einem Stacheldraht zu nahe gekommen ist, über die Ohren gezogen hat.
„So etwas hält über viele Generationen“, lächelt Renate Mergemeier und streicht dabei über das Leder. Sie hat Düsseldorfs feinste Buchbinderei 1987 von ihrem Vater übernommen und vor vier Jahren mit Ulrike Meysemeyer eine kongeniale Partnerin gefunden. Sie führt mit ihr das Geschäft und wird es mal übernehmen. Mit elf Mitarbeitern, durchweg gelernte Buchbinder, auch eine hoch talentierte Restauratorin darunter, lassen die beiden Damen in einer verwinkelten Werkstatt in einem Hinterhof an der Luisenstraße bibliophile Träume entstehen.
Sie produzieren Bücher, die bleiben sollen, sie setzen Ideen kreativer Düsseldorfer Werber in Bücher um und sie retten Bücher, indem sie, zumeist für Sammler, ein Buch, das zu zerfallen droht, perfekt restaurieren. Hier kommt Restauratorin Ilonka Werner ins Spiel.
Da war der Düsseldorfer Manager, der jüdische Literatur des frühen 20. Jahrhunderts sammelt. Auf dem Flohmarkt in Amsterdam, ausgerechnet hier, findet er ein Juwel deutscher Literatur: Bände der Zeitschrift „Der Anfang. Zeitschrift für die Jugend“, 1913 veröffentlicht – mit einem Beitrag des Philosophen und brillanten Literaturkritikers Walter Benjamin, veröffentlicht unter dem Pseudonym „Ardor“.
Man muss die für Sammler typische Besessenheit kennen, um zu verstehen, dass jemand bei teils vergilbten Blättern, die man sich nicht mal anzufassen traut, völlig ausflippt. Der literaturbesessene Manager brachte seinen Schatz, der auseinanderzufallen drohte, direkt in die Luisenstraße. Ilonka Werner löste hier behutsam Blatt für Blatt aus dem Band. „Es war sehr schlechtes, sehr säurehaltiges Papier“, erinnert sie sich, „so fragil, dass der Kunde sich gar nicht getraut hatte, den Band aufzuschlagen“.
Die blonde Restauratorin, eine Meisterin ihres Faches, wässerte zunächst die Schadstoffe heraus und stabilisierte anschließend jedes einzelne Blatt, indem sie feinstes Japanpapier, von dem ein Quadratmeter gerade mal 3,7 g wiegt, mit alkalisch gepuffertem Kleister aus technischer Gelatine aufbrachte. Das klingt kompliziert und das ist es auch. Der Kunde ließ den Band in Ziegenleder binden – und war glücklich: Er hatte ein Stück Zeitgeschichte gerettet und seine umfangreiche Sammlung bereichert.
Der Mann mit dem Schachtick, auch so ein Fall. „Der Herr sammelt Schachliteratur und hatte ein ganz besonders Büchlein, 1935 veröffentlicht, in der Nationalbibliothek entdeckt, das „Marineschach“ zum Thema hatte, ein Seekriegsspiel. Nach langen Bemühungen hatte die Nationalbibliothek dem Mann den Band ausgeliehen und die „Buchwürmer“ aus der Luisenstraße „bauten“ dem Sammler ein perfektes Faksimile.
Eine außergewöhnliche Herausforderung für die Buchbinderei war auch die komplizierte Produktion von 300 DIN A3 großen Büchern mit Sprungrücken für einen Luxemburger Künstler. Ulrike Meysemeyer: „Das ist natürlich eine Technik, die man maschinell nicht anwenden kann. Das muss alles mit der Hand gemacht werden – ein großer Aufwand.“
Die Buchdamen aus der Luisenstraße bedienen ein großes Spektrum: sie restaurierten die Bedienungsanleitung für einen uralten Aston Martin, produzierten auf die Schnelle die Kondolenzbücher für den verstorbenen Oberbürgermeister Joachim Erwin, binden Bücher zur Hochzeit und Firmenchroniken, Fachzeitschriften und Abschlüsse für Kanzleien, Speisekarten für „Monkey’s“, Münstermanns „Kontor“ und weitere Restaurants, Stammbücher nach Wunsch, Fotobücher, solche aus Anlass einer Geburt, und Gästebücher. „Die kommen wieder in Mode“, freut sich Renate Mergemeier, der auch gefällt, dass manche eine regelrechte Familiensaga produzieren – dicke Bände mit Tagebuchcharakter. Die Zahl der Düsseldorfer Familien, die das tun, schätzt Renate Mergemeier „auf ca. 20, mehr nicht“. Die Industriellenfamilie, die das Gästebuch aus ihrem Jagdhaus mit Unterschriften und Anmerkungen illustrer Besucher neu aufbauen und mit einer Fadenbindung versehen ließ, ist typisch für diesen Kundenkreis.
Die buchverliebte Dame hat fein beobachtet, dass die ganze Digitalisierung unserer Welt ihrem Handwerk guttut: „In einem digitalen Speicher bewahrt man alles oft planlos auf, man selektiert selten. Für ein Buch musst du auswählen, man entscheidet von Foto zu Foto, was wert ist, bewahrt zu werden. Dadurch gewinnt die Qualität.“ Dinge bewahren und ihnen einen Wert geben, das ist die Spezialität in diesem Paradies für Bibliophile, in dem es um Funktionalität, Optik, Haptik – und Langlebigkeit geht.
Die Optik! Ha, von wegen braunes Leder! Vielleicht für die Produktmappe von DIESEL, weil es zum Image passt. Aber sonst: Leder in Pink, Gelb oder kräftigem Grün. Und bei Leder sind die Damen sehr eigen. Sie verwenden nur sogenanntes Narbenleder, also die oberste Schicht. Und das muss, bitteschön, vegetabil gegerbt sein. Bei technischer Gerbung könnten Chromsalze die Haltbarkeit beeinträchtigen.
Leidenschaft und Interesse für das Handwerk haben Ulrike Meysemeyer in diesen Hinterhof in der Luisenstraße geführt. „Mein Vater war selbständiger Drucker“, schildert sie Kindheitseindrücke, „ich durfte hin und wieder eine Maschine bedienen, den Geruch der Farbe liebe ich immer noch.“
„Das Schöngeistige spielt eine große Rolle“, sagt Renate Mergemeier, die schon seit geraumer Zeit mit Design-Fachhochschulen in Düsseldorf und Krefeld kooperiert. Ihre Überzeugung: „Bei uns ist so viel Herz und Leidenschaft dabei, dass wir das auch an Kunden weitergeben können. Was wir hier machen, ist mehr als nur ein Job.“
Wolfgang Osinski
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