Rodolfo Angilletta nippt am Espresso, legt die Stirn in Falten und schaut verwundert auf die Tasse. Er gibt zwei weitere Würfel Zucker hinein. „Das ist besser“, nickt er, „ich bin eher ein Süßer.“ Dann macht er es sich auf einer Werkbank gemütlich, in Kapuzenpulli und Jeans, die dunklen Locken zu einem Zopf gebunden, und lässt seinen Blick durch die Werkstatt schweifen. Die Regale sind gefüllt mit Holzrohlingen, Feilen, Zangen, Öl- und Lackflaschen. Die Spuren jahrzehntelangen Handwerks haben sich in eine armdicke Arbeitsplatte gegraben. In einer Ecke ragt ein elektrischer Schleifer auf. Aus alldem hervor stechen die eleganten Formen der Geigen und Celli, die sich an den Wänden reihen.
„Ja“, beginnt Rodolfo Angilletta mit ruhiger Stimme, „das ist unsere kleine Werkstatt.“ Bis vor einem Jahr sei es nur dieser Raum gewesen. „Dann haben wir den Nebenraum hinzugenommen“, sagt er und deutet auf die offene Tür, durch die leise Radiomusik herüberdringt, denn es gebe genug zu tun. Vor lauter Aufträgen sei kaum noch Zeit, die eigenen Instrumente aufzuarbeiten. „Das sind gebrauchte Fundstücke, die wir einkaufen. Teils richtige Scherbenhaufen.“ Vorrang gebe er natürlich den Instrumenten, die Kunden zur Reparatur einreichen.
Meist gehe es darum, Verschleiß zu beheben: Lockere Wirbel müssen befestigt, Lackierungen erneuert und Stege begradigt werden. „Viel muss gemacht werden, damit eine Geige 300 Jahre übersteht“, sagt Rodolfo Angilletta, „dann kann sie sogar besser klingen als zuvor.“ Er setzt sich an einen Arbeitsplatz und zeigt ein schmales, fein verziertes Stück Ahornholz: ein Steg, über den die Saiten auf der Geigendecke geführt werden. „Der sieht für Laien aus wie fertig gekauft“, sagt er, „aber es ist ein Unikat, das jedem Instrument eigens angepasst werden muss.“ Er nimmt eine Geige zur Hand. „Sie ist 150 Jahre alt“, fährt er fort, „eine koreanische Studentin aus Lübeck hat sie uns eingereicht. Freunde erzählten ihr, dass wir gute Arbeit machen.“ Von der Geige hat er Saiten und Steg schon entfernt. Jetzt setzt er den neuen Steg probehalber auf und prüft den Sitz. „Da klafft noch eine Lücke.“ Er nimmt ein rustikales Messer, ein massiver Holzgriff, in den die Klinge eines Sägeblatts eingelassen ist. „Das ist der Schnitzer“, erklärt er, „das wichtigste Werkzeug eines Geigenbauers“. Damit schält er ein hauchdünnes Stück vom Steg ab und setzt ihn erneut auf die Geige. Nun folgt der Steg schon eher der gewölbten Geigendecke.
Ähnlich wie die Teile einer Geige müssten auch Mensch und Instrument erst zueinanderfinden. „Holz hat ein Gedächtnis“, sagt Rodolfo Angilletta, „in den Händen eines guten Musikers spielt sich eine Geige auch gut ein.“ So könne es passieren, dass das Instrument eines Meisterspielers nur in seinen Händen zu begeistern weiß. „Es ist, als entwickle die Geige Marotten, mit denen nur der Besitzer umgehen kann.“
Vor zwanzig Jahren machte Rodolfo Angilletta sein Abitur. „Ich wollte etwas mit Musik machen, spielte auch Geige“, sagt er, „aber zum Berufsmusiker reichte es nicht.“ Er studierte zwei Semester Elektrotechnik, überlegte, Toningenieur zu werden. Die Entscheidung über seine Zukunft aber fiel auf einer hunderte Kilometer langen Fahrradtour durch Italien. Er gelangte nach Cremona, einer Hauptstadt des Geigenbaus. Antonio Stradivari, der wohl berühmteste Geigenbauer, verbrachte hier im Jahr 1737 seinen Lebensabend. „Das ist es“, sagte Angilletta zu sich, „sieh zu, dass du hier unterkommst.“ Er lächelt: „Und das war kein Problem.“ Anfangs sei er komisch angeguckt worden. Das Problem war die Sprache: Angillettas Eltern stammen aus Süditalien. Der Dialekt seiner Eltern brachte ihm im norditalienischen Cremona wenig. „Es war, als komme ein Australier, der bayerisch spricht, nach Hannover“, sagt er mit einem Unterton, als könne er das immer noch nicht recht glauben. Doch es wurde schnell besser. Vier Jahre lang lernte er als Wandergeselle bei Cremonas Geigenbauern. Ein Praktikum führte ihn nach Düsseldorf, zum Geigenbauer Johann Scholtz. „Der bot mir an zurückzukommen, wenn ich soweit bin.“ Rodolfo Angilletta arbeitete später noch bei Geigenbauern in Leipzig und London. Als schließlich Johann Scholtz‘ Ruhestand nahte, bot der seinem früheren Praktikanten die Übernahme des Betriebs an. Angilletta, mittlerweile selbst Geigenbaumeister, sagte zu. Seit 2010 führt er das Geschäft in der Wallstraße 26 in Düsseldorfs Altstadt.
Von der Werkstatt führt eine Wendeltreppe runter in das Ladenlokal. Dort finden sich neben gebrauchten auch neue Instrumente. Ein gewisses Niveau möchte Rodolfo Angilletta hierbei nicht unterschreiten. „Einfach billig können wir nicht“, sagt er und nimmt ein Büschel Haare von einem Haken. Es sieht aus wie ein Pferdeschweif. „Es sind tatsächlich Pferdehaare“, erklärt er, „allerdings ausgewählt von sehr vielen Tieren.“ Damit werden die Streichbögen bespannt. Rau und elastisch müssen die Haare hierfür sein. Eine Auswahl dieser Qualität kostet Angilletta im Einkauf an die 700 Euro. „Der Klang ist unerreicht“, sagt er. Er könne es sich nicht erlauben, billigere Ware zu verwenden. „Die Kunden wären vom Ergebnis enttäuscht.“
Die günstigsten Geigen kosten 600 Euro. Es sind Kindergeigen, mit denen der junge Familienvater Angilletta einen preiswerten Einstieg in das Geigenspiel anbieten möchte. „Das sind ordentliche Fabrikgeigen“, sagt er, „allerdings von uns optimiert.“ In der Werkstatt arbeitet der Geselle Bennedikt Klein an einem solchen Instrument. Mit einer nadeldünnen Feile bessert er den Sattel aus, über den die Saiten vor der Kopfplatte geführt werden. „So, wie die Geige aus der Fabrik kommt, hätte niemand Freude daran“, sagt er, „wir sorgen dafür, dass die Saiten frei schwingen. Es geht um den Klang.“
Rodolfo Angilletta bindet sich eine Schürze um und setzt sich wieder an die 150-jährige Geige. Er tränkt Schleifpapier in Öl. „Zuerst muss es in der Werkstatt gut laufen“, sagt er, während das Papier über die Geige gleitet, „dann kann ich im Ladenlokal die Menschen an meine Arbeit heranführen.“ Denn eine Geige zu bauen, könne eigentlich jeder, sagt er. Er schaut von seiner Arbeit auf: „Die Kunst ist es, ein ausdrucksstarkes Instrument zu schaffen.“
Jeder Geigenbauer folge einem persönlichen Klangideal, dürfe es dabei aber nicht übertreiben. „Ich will den Musikern nicht vorschreiben, wie ihre Instrumente zu klingen haben“, sagt er, „die haben schließlich auch eigene Vorstellungen.“ Der Zuspruch der Kunden zeige, ob die Balance zwischen eigenem und fremdem Anspruch getroffen wird. Dieser Balanceakt gelingt Angilletta offenbar sehr gut: Zu seinen Kunden gehören auch Mitglieder der Düsseldorfer Symphoniker.
Hoch über der Werkbank hängt Alton Tobeys bekanntes Portrait von Stradivari. Das Gemälde zeigt den alten Meister in seiner Werkstatt. Rund 600 Instrumente aus Stradivaris Händen sind bis heute erhalten. Rodolfo Angilletta schaut auf das Portrait. „Ich staune manchmal, wenn Menschen voll Unverständnis fragen, was an einer Stradivari so besonders sei“, sagt er, „das sei doch bloß ein Stück Holz, heißt es.“ Er erinnert an die zwei Bilder von Andy Warhol, die ein nordrhein-westfälischer Kasinobetreiber kürzlich für rund 150 Millionen Dollar versteigerte. „Was war Warhols Leistung?“, fragt Angilletta und antwortet: „Er hatte neue Ideen, die er in hochwertigen Drucken umgesetzt hat.“ Und die Leistung Stradivaris? „Er hat zwei Kunstformen auf höchstem Niveau miteinander verbunden, nämlich Musik und bildende Kunst.“ Das geschulte Auge könne eine Stradivari unter 50 weiteren Meisterinstrumenten auf einen Meter Entfernung unterscheiden. „Dabei ist auf einer Geige nicht viel Platz für Unverwechselbares“, betont Angilletta. Und auch Stradivari habe neue Ideen umgesetzt: „Er hat die Geige so verändert, dass sie im großen Saal besser klingt.“ Bei alldem habe die teuerste Stradivari einen Erlös von 16 Millionen Dollar erzielt. „Da scheinen mir Stradivaris nicht gerade überteuert.“
Ähnlich hält er es mit seinen Meisterinstrumenten, Geigen, die Angilletta vollständig selbst baut. Neben den Reparaturen und Restaurationen komme er nicht oft dazu, schließlich steckten in einer solchen Geige 150 bis 250 Stunden Arbeit. Sie kostet dann 12.000 Euro. „Auch da grübeln manche, warum ich so viel Geld verlange“, sagt er mit einem leichten Kopfschütteln, „ich habe da ein reines Gewissen.“
Rodolfo Angilletta setzt wieder das Schleifpapier an. Dann zögert er. Aus dem Ladenlokal dringen jetzt die warmen Klänge eines Cellos herauf – Bennedikt Klein stimmt frisch aufgezogene Saiten für eine Kundin. „Vielleicht ist es gar nicht schade, dass ich so selten zum Bau neuer Geigen komme“, überlegt Angilletta. „Diese alten Instrumente haben Weltkriege überstanden, wurden malträtiert und auf Dachböden vergessen.“ Er blickt noch einmal auf: „Eigentlich sind wir Ärzte, die etwas Großes wieder zum Leben erwecken dürfen.“
Dino Kosjak
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