Einunddreißig. Heute hat er sie mal gezählt, weil wir gefragt haben. Einunddreißig Sorten Salat hat Michael Schier heute im Angebot, an einem x-beliebigen Donnerstag. Jeden einzelnen Kopf hat er in die Hand genommen, unansehnliche Blätter entfernt, den Strunk angeschnitten, alles ins Wasser getaucht und dann sorgfältig in die Kiste gelegt. Na gut, manche hat er auch geworfen, aber das kann er so gut, dass sie wie drapiert liegenbleiben. Es ist, als würde der Salat ihm gehorchen.
Aufstehen um vier Uhr, dann zum Großmarkt …
Überhaupt scheint ihm hier alles zu gehorchen. Es geht beinahe militärisch zu an seinem Obst- und Gemüsestand auf dem Carlsplatz, nur ohne Kasernenhofton. Er spricht freundlich, verbindlich, immer mit einem Lächeln. Aber wenn er sagt: „Die leeren Kisten müssen hier weg!“ oder fragt: „Ist der Tee fertig?“, dann dauert es keine Minute, bis die Kisten weg sind oder der Tee kommt. Dabei gehören fast alle, die hier arbeiten, zur Familie: drei Söhne, Nichte Andrea und manchmal hilft auch der älteste Sohn Michel André aus, der eigentlich sein Geld als selbständiger Werbefachmann verdient. Das ganze Team arbeitet mit äußerster Disziplin und funktioniert wie eine Spieluhr. Jedes Rädchen greift ins andere und heraus kommt ein Meisterwerk.
Es ist eine Disziplin, die Michael Schier, der Chef, selbst vorlebt. Seit fast fünfzig Jahren verkauft er hier seine grünen Delikatessen und hat dazu beigetragen, dass der Markt vom Carlsplatz den Ruf als bester in ganz NRW besitzt und mit dem weltberühmten Münchner Viktualienmarkt verglichen wird. Das heißt: Seit fast fünfzig Jahren täglich um vier Uhr früh aufstehen – an Freitagen und Samstagen sogar zwischen zwei und drei Uhr – und zum Großmarkt fahren, die Ware abholen, präparieren und auslegen. Dann beginnt der Verkauf, und nach manchmal erst zwölf Stunden ist Feierabend. Der Mann ist ein Extremist, was die Arbeit angeht, trotz seiner 63 Jahre.
Schier dirigiert den Gabelstapler zu seinem Lkw und schafft die Ware
mit seinem Sohn Tobias zum Carlsplatz-Stand
Doch die Frage, was ihn antreibt, wie er durchhält, was kein Schichtarbeiter ein Leben lang leisten könnte, bringt ihn in Verlegenheit. Dann kommt nach kurzem Nachdenken die schlichte Antwort: „Ich tu es gern, es macht mir Freude.“
Eine Freude, die man ihm anmerkt. Michael Schier behandelt die verderbliche Ware so liebevoll, als sollte sie ewig halten, und es kann gut sein, dass er jedem einzelnen Stück heimlich einen Namen gibt, als wären es seine Kinder.
Schon wenn er aus dem Haus geht, hat er gute Laune. Wenn andere sich schlaftrunken noch mal umdrehen würden, schaut er zufrieden in seinen Vorgarten mit den vielen bunten Blumen, dem Hibiskusbaum, dem mehr als mannshohen Rhododendron und der dreistämmigen Birke, die mit mehr als 30 Jahren so alt ist wie sein Haus. Er steigt in der Morgendämmerung dieses Frühlingstags um 4.30 Uhr in seinen Lieferwagen und fährt eine Viertelstunde bis zum Großmarkt. Zwei seiner Söhne, die Zwillinge Sebastian und Tobias (37), sind schon da. Sie werden, zusammen mit dem ein Jahr älteren Jean-Philippe, den ganzen Tag am Marktstand verbringen
Obwohl die Familie tags zuvor gemeinsam den 40. Hochzeitstag der Eltern gefeiert hat, sind alle fit und gut gestimmt. Offenbar hat Michael Schier nicht nur seine Disziplin, sondern auch die Freude an der Arbeit an die Kinder weitergegeben.
Jedes Produkt wird von Schier persönlich einem Qualitäts- und Geschmackstest unterzogen,
bevor er es in sein Angebot aufnimmt.
Auf dem Großmarkt kennt er jede Obstkiste, probiert die Erdbeeren und beäugt mißtrauisch die Honigtomaten, die ohne Erde in Holland gezogen werden und dennoch nach Tomate schmecken. Er begutachtet die Himbeeren aus Spanien, die Brombeeren aus Mexiko, die Limetten aus Brasilien und die Pfifferlinge aus Marokko, die so gar nicht in die Jahreszeit passen. Dann wird die gekaufte Ware auf seinen Kühltransporter geladen – er dirigiert selbst den Gabelstaplerfahrer –, und ab geht’s zum Carlsplatz. Dort besitzt Schier einen 20 Meter langen Verkaufsstand, den er extra für sich hat bauen lassen. Der hat so viel gekostet wie seinerzeit ein kleines Eigenheim, und er hat darauf geachtet, dass kein Hightech-Ungetüm daraus wurde: „Die Marktatmosphäre muss erhalten bleiben.“ Deswegen wird auch heute noch alles in Kisten gepackt und ausgestellt und nicht von glänzenden Edelstahltheken verkauft. So hält Schier die Balance zwischen der Tradition, mit der er aufgewachsen ist, und dem Fortschritt, den er selbst vorangetrieben hat.
Seinen 20 Meter langen Verkaufsstand hat er extra für sich hat bauen lassen.
Sein Familienbetrieb besteht bereits in der vierten Generation. Alles begann mit seiner Großmutter. 1952 hatte ihn sein Vater übernommen, nachdem er aus Frankreich nach Düsseldorf zurückgekehrt war. Dort hatte er in Kriegsgefangenschaft eine Französin kennengelernt und geheiratet, Sohn Michael ist im nordfranzösischen Douai bei Lille geboren. Vater und Großmutter führten den Obst- und Gemüsehandel gemeinsam, Sohn Michael machte mit 15 eine dreijährige Lehre zum Kaufmannsgehilfen. Mal war ihr Stand in den Kasematten am Rhein, mal auf dem Schwanenmarkt, bevor er auf dem Carlsplatz seine endgültige Heimat fand.
Nachdem sein Vater 1972 gestorben war, übernahm Sohn Michael das Geschäft, zusammen mit seiner Mutter Louise und seiner Frau Roswitha, die er mit 17 kennengelernt hatte, als beide in die Lehre gingen. Roswitha arbeitete in einem Reformhaus, und beide beschlossen, fortan vegetarisch zu leben. So erschloss sich Michael Schier die Welt der Nahrungspflanzen vollkommen neu und trieb eine neue Entwicklung voran: Er wurde zum Delikatessenimporteur. Zunächst fuhr er aus Neugier mit einem Großhändler nach Frankreich in den „Bauch von Paris“, den besten und bekanntesten Großmarkt weltweit. „Ich war überwältigt“, erinnert er sich, „von der Größe und Fülle des Angebots.“ Wie frisch Ware sein konnte, wie bekannte Lebensmittel schmecken konnten, welche exotischen Obst- und Gemüsesorten es gab – hier in der Gourmet- und Kolonialmacht Frankreich bot sich ihm ein komplett neuer Kosmos.
Mitarbeiterin Bettina Donnè sortiert die Salate ein … 31 Sorten sind heute im Angebot
Brachte er etwas für heutige Verhältnisse so Banales wie roten Eichblattsalat oder Riesenchampignons mit, wurde ihm die Ware förmlich aus der Hand gerissen. Und er selbst staunte wie ein Kind über afrikanische Süßkartoffeln, Kerbelknollen oder riesige elektronische Anzeigetafeln, von denen man ablesen konnte, wie viele Tonnen Tomaten gerade im Angebot waren. Zunächst fuhr er jede Woche einmal nach Paris, „aber das bedeutete jedes Mal zwei volle Tage ohne Schlaf, und dass meine Frau mit den Kindern allein war“. Doch u weil in jener Zeit die alte „Fresswelle“ der 50er Jahre von der neuen „Edelfresswelle“ abgelöst wurde, besorgten bald auch die Großhändler ihre Ware direkt in Paris, und Schier konnte sie jetzt im Düsseldorfer Großmarkt kaufen, ohne selbst die strapaziöse Reise zu machen. Natürlich kostete das mehr, „aber ich musste sowieso einiges Lehrgeld bezahlen, bevor ich die beste Ware und die günstigsten Händler auf dem Pariser Großmarkt gefunden hatte.“
Heute gibt es (fast) nichts mehr, was man nicht kaufen kann. Es zählt nur noch die Qualität. Manchmal kommt es vor, dass jemand etwas ganz Spezielles verlangt, beispielsweise malaysische Stinkfrucht oder thailändische Schlangenbohnen, die er im Urlaub kennengelernt hat. Klar kann Schier so was besorgen, „aber nur in kleinen Mengen und zu hohen Preisen“. Solchen Kunden empfiehlt er lieber den nächsten Asia-Shop. Er bietet bereits rund 700 Artikel an, da kann er auf ein paar extrem ausgefallene Sachen verzichten.
Seine Kunden mögen Ausgefallenes, wie hier die Ochsenherztomaten
oder zum Beispiel Salicornia.
Seine Kunden sind ihm treu, regelmäßig kommen bei ihm Christine Uecker, das Ehepaar Eickhoff, das Uerige-Besitzerpaar Schnitzler oder bis zu seiner Trennung auch das Künstlerpaar HA Schult und Elke Koska vorbei. Aber nicht nur die Be- tuchten und Prominenten können seine guten Sachen genießen. Schon in den 50er Jahren wurdenn Lebensmittel an Kriegswitwen verschenkt. Vor u mehr als 20 Jahren bezog die Düsseldorfer Tafel ihre ersten Lebensmittel bei Michael Schier. Er versorgte die Globalisierungsgegner von Occupy, die an der Johanneskirche campierten, mit Lebensmitteln. „Und noch nie“, sagt er, „haben wir einen Clochard abgewiesen, der einen Apfel oder eine Banane wollte.“
Wer kaum noch bei ihm einkauft, sind Spitzenköche. „Die lassen ihre Ware inzwischen selbst aus Paris kommen“, sagt Michael Schier, „und viele bestellen auch per Email oder Fax.“ Er hat es auch aufgegeben, die besten Restaurants der Stadt selber zu beliefern, was früher regelmäßig der Fall war, bis sich über 50.000 Euro Außenstände angehäuft und ein Loch in seine Bilanz gerissen hatten.
Sohn Jean-Philipp ist der Familienexperte für die bei Kunden sehr beliebten
selbstgemachten Öle, Chutneys oder Marmeladen.
Beliebt bei seinen Kunden sind die selbstgemachten Öle, Saucen, Chutneys oder Marmeladen, die Sohn Jean-Philippe entwickelt und zubereitet. Dafür hat er neben den Kühlräumen, die auf der anderen Straßenseite liegen, eine kleine Versuchsküche zum Experimentieren.
Auch er ist wie seine drei Brüder und beiden Schwestern vegetarisch aufgewachsen. „Sind doch dabei gut geraten, oder?“ sagt der Papa stolz. Okay, sie können ja auch bei der Arbeit den ganzen Tag naschen. Er selbst, sagt Michael Schier, macht nur eine Ausnahme von der tierlosen Ernährung – beim Käse. Wäre ja auch kaum vorstellbar, dass jemand in Frankreich geboren wird und keinen Käse isst …
Nach so vielen Jahren kann Michael Schier sich immer noch täglich aufs Neue
an seinen Produkten erfreuen.
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Text: Rudolf Hajduk || Fotos: Hojabr Riahi
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CARLSPLATZ INFO
Der Carlsplatz wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angelegt. Auf über 70 Marktständen findet man heute auf dem Carlsplatz ein unglaublich vielfältiges Warenangebot, das von heimischem Gemüse und exotischem Obst über Frischfleisch, Geflügel, Brot & Backwaren, Fisch oder Käse bis hin zu Blumen und Pflanzen reicht. Eben alles (und noch etwas mehr) was zu einem Viktualienmarkt gehört. Jeden Tag frisch!
Öffnungszeiten
Mo. bis Fr. 07:00 – 18:30 Uhr
Sa. 07:00 – 16:00 Uhr
Informationen über alle Händler und wo auf dem Carlsplatz man sie findet erhält man unter: www.carlsplatz.net
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[…] Ständen, und lasse mich von den Farben und Gerüchen inspirieren. Ein Stopp bei meinem Lieblingsgemüsehändler ist dabei ein absolutes Muss. Die Auswahl an Obst und Gemüse ist hier schier unendlich und für […]