„Bitte nachzapfen!“ Der sportlich-elegant gekleidete Herr reicht zwei Gläser über die Theke. Aus dem Zapfhahn quillt es sattbraun in die Gefäße. Nein, kein Altbier, dafür müsste er zum Uerige, gleich nebenan. Angelika Jansen zapft Senf, frisch aus dem Fass, für zu Hause – Senf to go heißt das wohl heute.
Der kleine Senfladen auf der Bergerstraße in der Altstadt, eingequetscht zwischen Eiscafé und Tapas-Imbiss, ist das Aushängeschild für Düsseldorfs schärfstes Produkt und bekanntestes Lebensmittel: den Löwensenf Extra. Die cremige Würzpaste gibt es hier zum Nachfüllen und aus dem Fässchen daneben wird der dunklere ABB-Mostert gezapft, Deutschlands älteste Senfsorte, die gerade den 290. Geburtstag gefeiert hat. Die beiden Gewürz-Klassiker, heute unter demselben Firmendach produziert, begründen bis heute den unangefochtenen Ruf Düsseldorfs als die deutsche Senfmetropole. In der gleichfalls in der Altstadt gelegenen Ritterstraße wurde 1726 erstmals der berühmte Mostert angerührt, der einige Jahrzehnte später seinen Namen samt Markenzeichen erhielt: ABB – nach den Initialen des Firmeneigentümers Adam Bernhard Bergrath. Die grauen Steinguttöpfchen mit dem blauen ABB-Schriftzug und dem Düsseldorfer Anker im Logo stehen traditionell auf den blanken Holztischen aller Düsseldorfer Brauhäuser; hier gesellt sich der Senf zum Altbier und wertet die Brötchen mit Holländer oder die Frikadelle geschmacklich auf.
Ortswechsel, von der Altstadt in Richtung Airport. Im Stadtteil Lichtenbroich fällt auf der A44 das große Löwensenf-Schild auf, der Löwenkopf, die rote Schrift. Autofahrer halten es wohl für Reklame, doch hier, am Kieshecker Weg, entstehen die Senfe, die den Namen Düsseldorf in die Welt transportieren. Ein geducktes zweistöckiges Werksgebäude, im Schatten eines Flughafen-Parkhauses – hier produzieren sie ihn, den Löwensenf, den ABB-Mostert und auch den Radschläger-Senf. Rund 50 Mitarbeiter stellen auf 10.000 Quadratmetern im Schichtbetrieb gewaltige Mengen her: rund 10.000 Tonnen jährlich!
Scharf ist offensichtlich im Trend, denn die Absatzkurve steigt nach oben, der hochmoderne Maschinenpark für Mischung, Abfüllung und Verpackung wird deshalb gerade nachgerüstet.
Ein kaum merklicher Duft liegt in der Luft, ein bisschen süßlich vielleicht, eher unaufdringlich. Dann der Moment, auf den sich Werksleiter Martin Meyer bei der Betriebsführung insgeheim wohl besonders freut: Er hebt die Abdeckung eines großen Bottichs an, wedelt ein wenig mit dem Deckel und schon schießen mir die Tränen in die Augen. Plötzlich ist die Luft von Extra-extra-extra-Schärfe geschwängert, meine Schleimhäute scheinen verrückt zu spielen, die ganze Welt des scharfen Senfes steigt mir in die Nase. Später lese ich irgendwo nach, dass die ätherischen Senföle Reize auf meine Rezeptoren ausüben, die Durchblutung erhöhen und die Erwärmung des Gewebes auslösen, aber jetzt muss ich erst einmal nur weinen.
Deckel zu, ich kann wieder klar sehen, wir folgen dem Produktionsweg des schärfsten Produkts des Hauses. Der Löwensenf Extra, erklärt der Werksleiter, wird ausschließlich nach allerstrengstem Reinheitsgebot hergestellt: Branntweinessig, Wasser, Salz und Senfsaaten, keine zusätzlichen Gewürze, keine Konservierungsstoffe.
Ausschließlich braune Senfkörner müssen es sein, sie bringen die Schärfe ins Gewürz. Tausend Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung in China als Würzmittel und Heilmittel geschätzt, gelangte die Senfpflanze über Kleinasien nach Europa, wo sie von den Römern neu entdeckt und verbreitet wurde. Die Araber bauten sie in Spanien an, von dort aus eroberte sie die feinen europäischen Tafeln. Die Senfpflanze kann praktisch überall auf der Welt wachsen, sie ist genügsam, stellt keine großen Ansprüche an die Bodenqualität. Heute zählen Kanada, Myanmar, Nepal, die Ukraine und Russland zu den größten Anbaugebieten, auch Ungarn und Tschechien verfügen über große Anbauflächen. Das Grundprodukt für den Löwensenf kommt vorwiegend aus dem Osten Europas, langjährige Lieferbeziehungen und regelmäßige Qualitätskontrollen garantieren eine gleichbleibende Güte.
1920 wurde in Düsseldorf erstmals Senf nach dem Dijon-Verfahren hergestellt: Löwensenf. Dijon war seit dem 14. Jahrhundert der Nabel der Senf-Welt, die Stadt im Burgund hatte jahrhundertelang ein Produktionsmonopol. Dort wurden Rezept und Produktionsverfahren für den glattcremigen, gelben, sehr scharfen Senf entwickelt. Beides, Rezept und Verfahren, exportierte Otto Frenzel aus Metz in die deutsche Senf-Hauptstadt Düsseldorf, nachdem sein „Stammland“ Lothringen als Kriegsfolge wieder zu Frankreich geschlagen wurde. Die Maschinen durfte er nicht mit über die Grenze nehmen, aber er besaß auch die Baupläne und ließ die Produktionsanlagen am neuen Firmensitz, wo es zu damaliger Zeit schon neun Senffabriken gab, neu errichten. Damit begann der Siegeszug des Löwensenfs in Deutschland, der Newcomer wurde in Düsseldorf bald der Platzhirsch. Das Spezielle am Dijon-Verfahren erläutert Werksleiter Martin Meyer: „Die braunen Senfkörnchen werden im Wasser, vermengt mit Essig und Salz, vorgequollen und dann geschrotet. In der so entstandenen Maische sind die dunklen Schalen noch gut zu erkennen. Diese werden in speziellen Siebmaschinen wie in einer großen Waschmaschinentrommel mit unzähligen hauchfeinen Löchern aus der Maische getrennt, so dass nur der cremige, hellgelbe Senf zurückbleibt.“ Maximal 25 Grad Celsius bei der Verarbeitung gewährleisten, dass sich die ätherischen Senföle nicht schon bei der Herstellung verflüchtigen. Dieser Prozess sorgt für die markante Schärfe und verursacht die tränentreibende Wirkung. Das Ausgangsprodukt, die Verarbeitung, der streng kontrollierte Herstellungsprozess und die unvergleichliche Schärfe verschaffen dem Löwensenf seine Alleinstellung in der weltweiten Produktlandschaft. Als Marke mit hohem Bekanntheitsgrad misst er sich mit weiteren Düsseldorfer Klassikern wie Persil, Pritt, Teekanne oder C&A. Der Marketing-Klassiker „Deutsche Standards“ gruppiert Löwensenf in eine Reihe mit Marken wie Nivea, Porsche, Montblanc oder Aspirin. Selbst notorische Düsseldorf-Verächter erkennen das an. In einer kölschen Sammlung von „Düssi-Witzen“ lautet die Antwort auf die Frage „Was ist das Beste an Düsseldorf?“: Löwensenf und die A3 nach Köln!
In den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die beiden bis heute bestehenden Düsseldorfer Senfmarken unter einem Firmendach vereint. Der Frischling Löwensenf verleibte sich den viel älteren ABB-Senf ein, das Unternehmen erhielt aber wohlweislich Name, Marke und Rezeptur am Leben. Für den dunkelbraunen ABB wird im Werk am Kieshecker Weg die Senfsaat unter einem 350 Kilo schweren Granitmühlstein mit ausgeklügelter Riffelung mehrfach vermahlen. „Der Stein hält ewig“, schwärmt Otto Genth, der fast 50 Jahre als Senfmüller in Diensten von Löwensenf stand. Er liebt das Produkt, das spürt man, wenn er Touristen durch das kleine Museum im Senfladen an der Bergerstraße führt, sie bei Verkostungen berät oder die monatlichen Senfrundfahrten im Rheinbahn-Oldtimer fachkundig begleitet. Die Maische für den ABB-Senf, so lerne ich von ihm, wird nach dem Zermahlen nicht von den zerriebenen Schale-Bestandteilchen getrennt, daher die dunklere Färbung. Durch die Reibungshitze wird die Mischung auf etwa 50 Grad Celsius erwärmt und danach wieder heruntergekühlt, die streng geheime Rezeptur für ABB-Senf gibt ihm von jeher den charakteristischen Geschmack. Kein Dijon-Senf eben, aber zumindest eine ebenbürtige Düsseldorfer Marke im Hause Löwensenf. Schließlich handelt es sich um Deutschlands erste und älteste
Senfsorte, der selbst Vincent van Gogh seinen Respekt gezollt hat. Ein kleines Gemälde des niederländischen Künstlers, ein Stillleben aus dem Jahre 1884, zeigt das ABB-Steinguttöpfchen mit dem Anker-Logo in trauter Gemeinschaft mit verkorkten Flaschen auf dem Küchentisch. Deutschlands ältester Senf wurde damit museumsreif, das Küchenbild gehört heute zur Gemäldesammlung im Amsterdamer Van-Gogh-Museum.
Scharf – Mittel – Süß – das sind die drei Grundgeschmäcker aus der Löwensenf-Produktion. Für Scharf steht der Berühmteste, Löwensenf Extra, der Medium-Senf (ihn gibt es in den Versionen „Würzig“ und „Mild mittelscharf“) wird durch die Mischung mit den milden gelben Senfkörnern entschärft und die Sorte „Bayerisch Süß“ erfordert die Beigabe von reichlich Zucker. Otto Genth hat so seine Vorlieben: „Auf einen kräftigen Käse streiche ich immer süßen Senf, das ergibt einen reizvollen Geschmackskontrast.“ Auf normalen Käse gehört für ihn der Extra.
Neben den Klassikern bietet der Senfladen – wie auch der Online-Shop von Löwensenf – eine Vielzahl teils exotischer Senfmischungen an. Nadine Dübner, als Produktmanagerin fürs Marketing zuständig, legt großen Wert darauf, dass Senf viel mehr „als nur ein Dip fürs Würstchen“ ist, die Angebotspalette tritt leicht den Beweis an. Honig-Dill ist inzwischen schon begehrtes Standardprodukt und wird gern für geräucherten Lachs oder für individuelle Salatdressings genutzt. Coconut-Curry-Senf kommt mit asiatischer Anmutung daher. Balsamico-Senf, man ahnt es, gibt eine gute Grundlage für Salatsaucen. Grobkörniger Löwensenf, mit Mosel-Riesling verfeinert, bewährt sich als Kochsenf. Bis zu 50 verschiedene Mischungen wie Knoblauch, Feige, Zwiebel oder Rotwein-Pflaume sind im Angebot. Chili-feurig ist bei Grillfreunden beliebt. Apropos Grillen: Die Löwen haben längst auch Saucen ins Programm aufgenommen. Wiederbelebt wurde jüngst für den Senfladen die Düsseldorfer Traditionsmarke Radschläger-Senf, hergestellt nach einer Rezeptur aus dem Jahr 1830.
Die Düsseldorfer Senfmacher geben überall ihren Senf dazu. Pünktlich zur Weihnachtssaison wird es auch in diesem Jahr wieder einen Zimt-Senf geben.
Otto Genth empfiehlt den Feinschmeckern und Hobbyköchen, sich selbst als Senfmischer auszuprobieren: „Grundlage sollte immer ein milder Senf sein, für die Schärfe kann man Extra beimischen. Alle Arten von Kräutern und Gewürze, Honig, Fruchtstücke beispielsweise von Pflaume oder Apfel – da sind der Phantasie und dem persönlichen Geschmacksempfinden keine Grenzen gesetzt.“ Für die Behandlung des Senfes in der heimischen Küche hat der erfahrene Senfmüller einen leicht zu merkenden Leitspruch: „Die drei Feinde des Senfes sind Licht, Luft und Wärme.“ Ganz gleich in welcher Verpackungsform, Senf gehört im verschlossenen Behältnis in den Kühlschrank. Mit der Zeit verliert der Senf ohnehin seine Schärfe, weil die flüchtigen Öle sich sozusagen in Luft auflösen, Wärme und Kontakt zu Sauerstoff beschleunigen diesen Prozess. Am schärfsten ist der Extra in der Fabrik, bei der Verkostung des frisch produzierten Senfes fließen wieder Tränen. Bernd Holzrichter
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