Natürlich gibt es sie hier, die Schönen und Reichen, die Range-Rover-Fahrer, die ihren Dalmatiner Flecki nennen und ein Dachgeschoss mit Blick auf den Rhein bewohnen, das über mehr senkrecht stehende Glas-Quadratmeter verfügt, als das Domizil Wohnfläche hat. Mit „hier“ ist derjenige Teil von Düsseldorf gemeint, dessen Wesen vielleicht wirklich alle Präjudize übertrifft, die man der Landeshauptstadt gern anhängt: zu viel Kohle, zu viel Mode, zu viel Stil. Zu Unrecht, wie ich finde.

Düsseldorf ist offen für alle, wenngleich „historisch belastet“. Die Stadt, die Heinrich Heine hervorbrachte, verfügte damals bereits über die Frühform der zugezogenen Skandalnudel – wenn man etwa an den gebürtigen Detmolder Christian Dietrich Grabbe denkt, den es hierher verschlug, wo er genauso unglücklich blieb wie in seiner Heimatstadt und anderswo. Er sorgte schon zu seiner Zeit dafür, dass in der Altstadt das Saufen und Prügeln zum guten Ton gehörte. Oberkassel dagegen war ihm bestimmt noch ziemlich egal, weil vom Schlossplatz aus betrachtet nichts als ein paar ferne, niedrige Dorfhausdächer zu erkennen waren, die garantiert nicht so anziehend wirkten wie die heutige Reihe der Gründerstilfassaden mit eben jenen Panoramafenstern, hinter denen Flecki kauert und herablassend aufs gegenüberliegende Rheinufer und die Bewohner der Innenstadt blickt.

VVielleicht war es auch die dem Rhein zu schuldende Distanz, die Leute wie Gustav Gründgens, Joseph Beuys und Gerhard Richter motivierte, sich in Oberkassel niederzulassen. Als Künstler legt man auf unmittelbare Tuchfühlung keinen großen wert. Man möchte wahrgenommen, gesehen, aber nicht „berührt“ werden. Die Distanz ist zwar klein, aber sie sorgt für den Minimalabstand, ohne den es allzu intim werden könnte. Das „Zauberdorf“, wie Günther Uecker Oberkassel nennt, ist für ihn somit der „schönste Vorort der Welt“ – so zitiert in dem wunderbaren Fotoband über „Innenansichten“ von Oberkasseler Häusern und Menschen von Peter Alex Pohl. Wobei der Zauber des Dorfs zweifellos auf der Vielfalt beruht, die wir hier vorfinden: das Gemisch aus Altbauten und moderner Architektur, das dichte Netz ruhiger Nebenstraßen, die nahtlose Infrastruktur, die das Leben auch ohne Innenstadt möglich und sinnvoll macht, sowie die herrliche Gastronomie – z. B. das Muggel, fünf sehr gute „Italiener“ und zahllose Kneipen, die getrost den Wettstreit mit der Altstadt aufnehmen können. Oder das Chateau Rikx, das „drüben“ seinesgleichen sucht. Vor allem natürlich die Vielfalt der Bewohner und Nutzer all dieser Locations und ihrer besonderen Klimazustände.

Allein das Muggel ist seit Jahrzehnten eine Kulturinstitution, die jeder Betreiber eines Programmkinos in Deutschland kennt. 1977 vom leider verstorbenen Helmut Kettler als „Souterrain im Café Muggel“ gegründet, ist es „das kleinste Düsseldorfer Programmkino mit Komfort und Service“ – im Kinoraum befindet sich eine Bar. Die frühere Raucherlaubnis auf allen Plätzen gilt seit Beginn 2008 nicht mehr, was manche bedauern, weil es gleichsam zur besonderen „Atmosphäre“ gehörte. Dass seinerzeit zuweilen kaum mehr der Film zu erkennen war vor lauter Qualm, störte offenbar niemanden – und lässt uns heute noch schmunzeln. An den Mittwochabenden füllen sich neben dem Kino auch die Terrassen oben mit geradezu babylonischer Sprach- und Kulturenvielfalt. Es wird gebaggert und geflirtet, was das Zeug hält und was das ebenso weltweite wie weltläufige Publikum hergibt. Der Autor selbst hat einen amerikanischen Nachbarn, der seit vielen Jahren als Manager tätig ist und trotzdem nur ein paar Worte Deutsch spricht. Das hat er Oberkassel zu verdanken, dem „Weltdorf“, das über keine eigene Landessprache zu verfügen scheint, sondern „alle Zungen der Welt“ beherrscht.

Aieselben hört man zweimal wöchentlich auch auf dem Gemüsemarkt, wo in allen Sprachen Rezepte ausgetauscht, Einladungen ausgesprochen und der neueste Klatsch und Tratsch ausgetauscht wird. Irgendjemand behauptete mal, dass man Oberkassel im Grunde gar nicht verlassen muss, um sein Leben zu leben, und immer wieder trifft man Fortgezogene, die das Berufsleben in die Fremde trieb, und die reumütig zurückkehren, um wenigstens für einen kurzen Besuch in der „Heimat“ noch einmal das Klima, die Straßen, die Menschen zu spüren und zu genießen. Sie wollen noch einmal erleben, wie die Jura-Studentin auf einer der Terrassen den Chefarzt kennenlernt, der Koch aus Ghana mit der Designerin aus Hongkong flirtet und der Vodafone-Manager aus Texas dem Abiturienten aus der Sonderburgstraße erklärt, wie man Chicken Fried Steak so zubereitet, dass es nicht bloß ein „Rindfleischschnitzel“ wird.

Alles in allem darf man getrost behaupten, dass Besucher, wenn sie nur das Düsseldorfer „Festland“ durchstreifen, das Beste verpassen, wenn ihnen niemand über die Oberkasseler Brücke verhilft, wo sich die „Halbinsel des guten Geschmacks“ befindet, wie man sagen könnte. Womöglich sogar mancher Bundespolitiker, wenn er von seinem Helikopter zwar auf der richtigen Rheinseite abgesetzt wird, dann jedoch meist in die „falsche“ Richtung davonfährt! Mag sein, dass es rechtsrheinisch bedeutsamer und wichtiger zugeht. Aber wichtig ist nicht immer richtig, denn die Lebendigkeit, die Lust am Leben, das Sinnliche und die Gefühle sind am Ende des Tages mindestens genauso staatstragend wie das Kalkül des Regierens. Und von Sinnlichkeit verstehen die Oberkasseler nun mal das Meiste mit ihrem Blick fürs Schöne, Gediegene und Gute – mit ihren herrlichen Buntglasfenstern, ihrer Liebe zu Stuck und Dekor, zu gedrechselten Treppenaufgängen und sonnigen Wintergärten, die in beschauliche Höfe und Gärten blicken.

Dass all der Gründerstil erhalten blieb, dafür haben die Deutschen übrigens selbst gesorgt, als sie sich gegen Ende des Krieges den Alliierten in Oberkassel vom Innenstadtufer aus sinnlos widersetzten, aber zum Glück nicht mehr über die schweren Waffen verfügten, mit denen sie vermutlich die gleichen schweren Gebäudeschäden hinterlassen hätten, die man aus anderen Städten kennt. Aus Fehlern lernt man eben. Und dass die Oberkasseler lernfähig sind, beweisen sie tagtäglich und können auf die historische Metamorphose vom linksrheinischen Dorf zu einem der schönsten Wohnviertel weit und breit auch weiterhin mit Fug und Recht stolz sein. Übrigens kann man sicher sein: Auch der alte Jan Wellem würde nicht schlecht staunen, wenn er heute in sein Düsseldorf käme. – Wo, fragen wir uns natürlich, würde er sich wohl seine neue Residenz hinwünschen? – Richtig! Und garantiert kauft er sich dann auch einen Flecki, der im Fenster liegt und rüberguckt … 
Stefano Sorice

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Eine Antwort

  1. mark793

    Soso, die schweren Gebäudeschäden, die man aus deutschen Städten so kennt, sind also von der Wehrmacht verursacht worden. Das ist ja mal eine steile These.

    Warum die alliierten Bomberverbände Oberkassel weitgehend ausgespart haben, werden wir wohl nie erfahren. Krefeld-Uerdingen ist kurioserweise auch ziemlich intakt geblieben, um noch ein Beispiel aus der Umgebung zu nennen.

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